Das Ziel des Lebens
Das Ziel des menschlichen Lebens ist, das Ufer
der Unsterblichkeit zu erreichen, wofür der menschliche Körper sozusagen als
Boot benutzt wird. In diesem Boot muß das Meer von Leben und Tod überquert und
Unsterblichkeit erlangt werden. Dies wird nur durch Erkenntnis des Selbst
erreicht und fällt dem Menschen nicht leicht, da er im Dschungel der Materie, in
Körper und Verstand, gefangen ist. Für den Unwissenden ist der Körper das
Selbst, für den Gebildeten scheint das Ego das Selbst zu sein. Unnötig zu
erwähnen, daß sich beide täuschen.
Die verschiedenen Wellen, die im Organ
der Erinnerung citta auftauchen, verdecken das Selbst. In diesen Wellen
wird nur ein schemenhaftes Bild vom Selbst wahrgenommen. Die Wellen
symbolisieren samskara, d.h. alle gespeicherten Eindrücke unserer
Taten. Die wahre Natur des Selbst kann nicht enthüllt werden, solange auch nur
eine einzige Welle das Wasser des citta-Sees trübt. Sobald sich alle
Wellen gelegt haben, erreicht der Meditierende Nirvikalpa-Samadhi, den
samenlosen, ursachlosen Zustand. Dieses Stadium ist erreicht, wenn Handlungen im
Unterbewußtsein keine Eindrücke mehr bilden und somit aufhören, den Menschen zu
binden. In diesem Zustand sind alle Schleier gehoben, und man nimmt das Selbst
in seiner eigenen Herrlichkeit erstrahlend wahr. Man erkennt, daß das Selbst
keine Summe von Einzelteilen ist. Es ist der ewig bestehende Urgrund allen
Seins. Als solcher kann Es weder geboren werden, noch kann Es sterben. Es ist
unsterblich und unzerstörbar, die ewige Essenz der
Intelligenz.
Ununterbrochener Wechsel charakterisiert das Leben auf
dieser Erde. Die Bhagavad Gita spricht von der Welt als Hort des Elends,
flüchtig und voller Unglück. Die alten Weisen erklärten aufgrund ihrer eigenen
Erfahrungen, daß es »nur eine Wahrheit gibt« und das Ziel des menschlichen
Lebens Erkenntnis dieser Wahrheit sei. Den Erklärungen des Mahabharata zufolge
ist die Berührung mit diesem Universum ebenso vorübergehend wie die Berührung
eines Holzstammes mit dem Wasser des fließenden Stromes, in dem er schwimmt.
Deshalb lautet die Botschaft der alten Weisen an die Menschheit: »Ihr Kinder der
Unsterblichkeit, erkennt euch selbst als das Unendliche. Werdet zum All. Das ist
der höchste Segen.«
Das Leben ist kostbar, aber kurz. Der Zeitpunkt des
Todes ist ungewiß. Das eigene Streben, das uns zum höchsten Ziel führen kann,
wird als purushayata bezeichnet. Das Königreich des Friedens ist
jenseits von Sprache und Denken. Es ist ein erfülltes Stadium spiritueller
Errungenschaft, Zentrum, Ideal und Ziel des Menschen. Es ist vollkommene
Bewußtheit des Selbst und das Ziel des Lebens: Selbstverwirklichung. Erfüllung
und ewiger Friede können nur durch Erkenntnis des Selbst erreicht werden. Das
Leben auf dieser Erde, in diesem Körper, ist lediglich eine Vorbereitung,
sozusagen ein Schritt zum höheren Leben. Leben ist Gottesdienst. Der Mensch
lebt, weil es Gott gibt. Er existiert in Gottes Sein, atmet und bewegt sich in
Ihm. Sobald ein Mensch die Bedeutung dieser spirituellen Wahrheit verstanden hat
und die Essenz dieser Erkenntnis zum Inhalt und Teil seiner täglichen
Aufmerksamkeit gemacht hat, wird er zu Gott auf Erden.
Moksa
oder Befreiung ist das summum bonum des Lebens und Erfüllung des
Lebenszwecks. Für den, der moksa erlangt hat, existiert die Bindung an
Leben und Tod nicht mehr - weder hier auf Erden noch auf anderen Planeten. Der
wahre Sinn des Lebens ist die Verwirklichung dieser Freiheit. Erkenntnis der
Identität der individuellen Seele mit der universalen Seele bedeutet Befreiung.
Durch Aufhebung des individuellen Ego wird wahre Universalität erreicht. Der
Mensch erlangt ewiges Leben, ein erfülltes Leben.
Jeder Mensch ist Herr
seines eigenen Schicksals. Er kann irgend etwas oder alles tun.
Prarabdha-Karma, ist unter seiner Kontrolle. Durch Gebrauch seines
freien Willens kann er die höchste Verwirklichung erlangen. Es gibt nichts, was
er nicht vollbringen könnte. Der Mensch beraubt sich jedoch selbst seiner
Fähigkeiten, indem er die Macht seines wahren Selbst vergißt.
Das
Lebensziel aller Wesen ist Glück, Friede, Zufriedenheit, Sicherheit, Wissen und
Unsterblichkeit. Der Wunsch nach Vollkommenheit entspringt dem Selbst, dem
Ebenbild Gottes im Menschen. Das vollkommene Ebenbild Gottes sucht sich durch
jedes Einzelwesen auszudrücken. Der einzige Weg zur Erfüllung dieses
vollkommenen Selbstausdrucks ist die Wiedervereinigung menschlich isolierten
Bewußtseins mit dem Ozean des kosmischen Bewußtseins, mit Gott. Gurudev
Paramahamsa Yoganandaji sagt: »Eine einzelne Welle, die sich aus dem Ozean
erhebt, unterliegt den Gesetzen des Wandels. Sie wird geboren, existiert und
vergeht. Aber wenn die Welle erkennt, daß sie nichts anderes als lediglich eine
manifestierte Form des Ozeans ist, wenn sie begreift, daß der Ozean diese Welle
und auch alle anderen Wellen ist, wenn die Welle weiß, daß sie der Ozean ist,
dann weiß sie, daß, obwohl ihre Form sich verändern mag, sie niemals
verlorengehen oder vernichtet werden kann.«
Ähnlich kann auch die
individuelle Existenz des Menschen nur dann unsterblich werden, wenn die
Unsterblichkeit Gottes erlangt wird. Menschliches Bewußtsein kann nur
unvergänglich werden, wenn es sich im kosmischen Bewußtsein Gottes auflöst. Die
Freude findet nur dann kein Ende und währt ewig, wenn sie mit der immer neuen
Freude Gottes vereint ist. Selbstverwirklichung bedeutet, das eigene Selbst und
seine Identität mit Brahman oder Gott zu erkennen. Dann geht man über
Zeit, Raum und Kausalität hinaus. Dieser Zustand ist in Wirklichkeit die
Wiedergewinnung des ursprünglichen Zustandes der Menschheit und keine neue
Errungenschaft. Karma ist die Ursache der Bindungen, der
Unvollkommenheit. Wünsche erzeugen Karma, und der Verstand erzeugt Wünsche. Nur
wenn der Verstand mit dem kosmischen oder universalen Prinzip verschmilzt,
werden die Wünsche zerstört. Indem ein Mensch wunschlos wird, kann er durch
seine Handlungen nicht mehr gebunden werden. Er wird frei.
Die Essenz
aller Religionen liegt in der persönlichen Erfahrung des Göttlichen, die durch
sadhana möglich ist. Sadhana bezeichnet jede spirituelle
Übung, die den Übenden dazu befähigt, Gott zu erkennen. Es ist das Mittel, mit
dessen Hilfe man das Ziel des Lebens erreichen kann. Sadhana ist jedoch
nur Mittel zum Zweck. Um das Ziel zu erreichen, ist Disziplin unabdingbare
Voraussetzung. In der Religion beinhaltet sadhana alle religiösen Übungen und
Zeremonien, die zum Erkennen spiritueller Wahrheiten führen. Sadhana
ist praktisch angewandte Religion.
Um Gott lieben zu können, muß man Ihn
durch eigene bewußte Erfahrung erkennen und nicht nur durch Bücher oder
philosophische Betrachtungen von ihm hören. Nur so kann es wahre Liebe geben.
Spirituelle Übung ist der Weg zu diesem Wissen. Durch Handlung entsteht Wissen,
durch Wissen Liebe. Ohne unmittelbares Wissen gibt es keine wahre Liebe, nur
Sentimentalität. Der sicherste Weg, Gott zu realisieren, wurde von den großen
Meistern und Yogis erkannt und praktiziert. Ausschließlich durch Gebete kann und
wird man keine spirituellen Wahrheiten erfahren. Wie ein Wissenschaftler muß man
die eigenen Aktivitäten und Experimente sammeln und systematisieren. Der
Unterschied ist, daß Wissenschaftler Naturgesetze anwenden, während man hier
nach innen geht und sich den spirituellen Gesetzen widmet. Kriya Yoga ist die
wissenschaftliche Methode, die wahrhaftig nach Gott Suchende zum Ziel
führt.
Religion ist tief im Bewußtsein der Menschheit verankert.
Körperliches und psychologisches Training sind notwendig, um den dem Körper
innewohnenden Geist zur spirituellen Verwirklichung zu führen. Das Endliche
entfaltet allmählich das Unendliche. Aber da das Unendliche eine vergängliche
Form angenommen hat, ist dessen Entfaltung mit dem Wachstum und der Entwicklung
des Körpers verknüpft. Allumfassende Entwicklung der körperlichen, mentalen,
intellektuellen, moralischen und intuitiven Aspekte einer Person sind für die
spirituelle Verwirklichung essentiell. Der Körper ist das Instrument, durch das
sich die Lebenskraft ausdrückt. Für einen Menschen, der Verwirklichung anstrebt,
ist Kontrolle über Körper und Verstand unverzichtbare Voraussetzung und ein
unbezahlbarer Schatz, der in allen Lebenssituationen von Nutzen ist. Religion
sollte daher den gesamten Menschen bilden und weiterentwickeln, seinen Kopf,
sein Herz und seine Hände. Nur dann kann es Vollkommenheit geben. Es sollte eine
gleichzeitige Entwicklung von Körper, Geist und Seele stattfinden.